An dem Tag, als er sterben wollte, regnete es.
Es hatte am Morgen begonnen, und auch jetzt, zwei Stunden nach Mittag, war der Himmel grau in grau verhangen, Häuser, Straßen und Gehsteige schimmerten trübe, und die wenigen Menschen, die unterwegs waren, hasteten durch die kalte Nässe, bewaffnet mit Regenschirm oder Jacke. „Das ist ein guter Tag“ dachte er, „ein guter Tag zum Sterben.“ Und er beugte sich über die Brüstung, spürte den Regen und hatte keine Angst.
„Wie leicht es ist“, sagte er sich, „es fehlt nicht viel, und ich falle hinunter.“ Aber dann dachte er, wie es wäre, wenn sie ihn dort unten, in entstellter Haltung, finden würden. Er ließ sich zurück in sein Zimmer gleiten, dieses kleine Studentenzimmer unter dem Dach, mit seinem Schrank, dem Bett und dem Tisch. Er schloss das Fenster und überlegte, dass, wenn er sterben wolle, er doch zumindest die Papiere ordnen müsse, und so zog er die Schublade des Tisches auf und vertiefte sich in die unvermeidbaren Arbeiten.
Dann - er hatte gut drei Stunden darüber gesessen - stand er auf, ordnete die letzten Umschläge, packte sie in seine Tasche und öffnete die Tür. Auf dem Weg nach unten begegnete ihm Frau Siebenkranz, und er grüßte freundlich, wie er es immer tat. Überhaupt war er der Meinung, dass die Welt viel zu unfreundlich sei, und schließlich war dies auch einer der Gründe, die zu seinem Entschluss geführt hatten. Aber Frau Siebenkranz nickte nur und hastete die Treppe hinauf. Unten stellte er fest, dass er den Schirm vergessen hatte. Doch zurück wollte er nun nicht mehr, wo er doch die Türe hinter sich geschlossen hatte.
Nachdem er die letzten Briefe eingeworfen hatte, ging er nun dem Flusse zu. Es war nicht leicht zu entscheiden, welche der Brücken er wählen sollte. Die Eisenbahnbrücke oder die belebte große Brücke? Vierzig, fünfzig Züge verkehrten täglich auf der einen, hunderte Autos auf der anderen. Auch die alte Stahlbrücke zog er in Erwägung. Dort war der Strom nicht ganz so breit aber desto tiefer. Schließlich dachte er an die Fußgängerbrücke am Rande der Stadt, die sich in zwei Teilen über den Fluss wölbte: Von einem Ufer bis zur Flussinsel und von dort weiter zur anderen Seite.
Welche sollte er wählen? Eine, an der er von zahlreichen Schaulustigen beobachtet werden würde? Oder sollte es still geschehen, im Verborgenen? Das bedeutete aber dann, dass seine Leiche, würden sie sie finden, sehr unansehnlich wäre, eben weil durch tagelanges Liegen im Fluss, sein Gesicht und die Glieder ganz und gar aufgedunsen wären. Endlich entschied er sich fröhlich für die alte Stahlbrücke, hier war es ruhiger aber nicht gänzlich unbelebt, man würde sein Vorhaben erkennen und im Falle seines Todes nach seinem Körper suchen. Froh den Entschluss gefasst und endlich das nahe Ziel vor Augen zu haben, lief er weiter.
Inzwischen war es ganz dunkel und regnete nicht mehr. Endlich hatte er die Brücke erreicht. Autos blendeten ihn und das Licht der Laternen spiegelte sich im Wasser. Als er sich nun zur Mitte der Brücke bewegte - er war sich seines Entschlusses immer noch ganz sicher - sah er eine Gestalt am Geländer stehen. Er ging näher heran und erkannte eine junge Frau.
„Hallo“ sagte er. Sie stand von der Straße abgewandt, hinter dem Geländer, so, als wolle sie sich in die Tiefe stürzen.
„Hallo“ antwortete sie, ohne sich umzudrehen. „Bitte stören sie mich nicht“.
„Stören wobei?“ fragte er, obwohl er es natürlich sah.
„Ich möchte mich umbringen. Gerade wollte ich es tun - doch nun sind sie gekommen.“ Es klang ein wenig vorwurfsvoll.
„Aber warum denn?“ fragte er, und war sich nicht ganz sicher wie er sich verhalten sollte, denn eigentlich hätte er jetzt an ihrer Stelle stehen müssen.
„Weil die Welt nicht zu ertragen ist“, erwiderte sie nicht unfreundlich.
„Ja, das stimmt“, und er nickte zustimmend.
Ihre Hände ließen das Geländer los. Es schien, als würde sie über dem Abgrund schweben.
„Können Sie denn schwimmen?“ fragte er.
Sie stutzte. „Ja“ sagte sie. “Warum?“
„Weil Sie sich nur umbringen können, wenn sie nicht schwimmen können.“
Die Frau fasste das Geländer und drehte sich vorsichtig um.
Sie blickte ihn an und er blickte zurück.
„Können Sie denn schwimmen?“ fragte sie.
„Nein“ sagte er.
Er überlegte, ob er sein Vorhaben aufgeben solle. Immerhin war sein Platz, den er unter Berücksichtigung verschiedener, wichtiger Aspekte gewählt hatte, besetzt.
„Es hat sich nicht ergeben“, fuhr er fort.
„Beim ersten Mal konnte ich es auch nicht“, sie schaute ihm direkt ins Gesicht „aber das geht allen so.“
„Allen?“ Er sah sich um, konnte aber niemanden entdecken. Im flackernden Scheinwerferlicht schien ihr Gesicht seltsam verzerrt.
„Allen die auf den Brücken stehen. Jede Nacht. Zaudernd, zögernd oder voller Mut. Die meisten können nicht schwimmen.“ Und sie betonte: „Am Anfang“.
Dann lachte sie, stieß sich unvermittelt vom Geländer ab und warf sich kopfüber in die Tiefe. Ein leichtes Klatschen drang an sein Ohr, wie wenn ein Stein aus großer Höhe geworfen wird. Er aber setze sich auf das Geländer und schaute dem ruhigen, dunklen Flusse zu.
Nun war es nicht etwa so, dass er erleichtert gewesen wäre, vielmehr wunderte er sich , dass niemand von dem Vorfalle Notiz zu nehmen schien. Auch fiel es ihm jetzt schwerer als zuvor, seinen Entschluss umzusetzen. Denn in der Tat konnte er nicht schwimmen, und die Vorstellung, es im Kampfe des Todes notgedrungen zu erlernen, irritierte ihn. Außerdem befürchtete er, dass ein möglicher Beobachter einen Zusammenhang zwischen ihrem und seinem Sprung herstellen könne, obwohl hier doch ganz unterschiedliche Gründe vorlagen.
In dieser Nacht starb er nicht, und auch nicht am nächsten Tag. Aber am folgenden Abend setzte er sich ans Ufer.
Er wartete, bis es ganz dunkel geworden war. Das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich im Wasser, und tauchte die Brücke mit ihren Pfeilern in ein unechtes Licht. Er zog aus, was er am Leibe trug und watete ins Wasser.
Und dann lernte er schwimmen.